Die Stalingradmadonna ist ein Bild des deutschen TruppenarztesKurt Reuber (1906–1944), das zu Weihnachten 1942 in Stalingrad (heute Wolgograd) entstand. Es gelangte während der Schlacht von Stalingrad mit einem der letzten Transportflugzeuge aus dem Kessel.
Zum Gedenken an die Opfer der Schlacht und Mahnung zum Frieden befindet sich das Bild seit 1983 in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Der evangelische Pastor und Lazarett-Oberarzt Kurt Reuber schuf eine Holzkohlezeichnung, die eine sitzende Frauengestalt zeigt. Ähnlich einer Schutzmantelmadonna birgt sie unter dem Mantel ein Kind, das sie liebevoll ansieht und ihm Schutz und Geborgenheit gibt. Die Darstellung trägt die Umschrift „1942 Weihnachten im Kessel – Festung Stalingrad – Licht, Leben, Liebe“.
„Das Bild ist so: Kind und Mutterkopf zueinandergeneigt, von einem großen Tuch umschlossen, Geborgenheit und Umschließung von Mutter und Kind. Mir kamen die johanneischen Worte: Licht, Leben, Liebe. Was soll ich dazu noch sagen? Wenn man unsere Lage bedenkt, in der Dunkelheit, Tod und Hass umgehen - und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die so unendlich groß ist in jedem von uns!“
– Kurt Reuber in einem Brief an seine Frau: Martin Kruse (siehe Literatur), in Evangelische Zeitung, 23. Dezember 2012, S. 6
Die nationalsozialistische männliche Kriegsrhetorik „1942 Weihnachten im Kessel“ (Kriegsweihnachten) und „Festung Stalingrad“ (Durchhaltebegriff) wird in der Inschrift mit der weiblichen christlichen Hoffnung auf „Licht, Leben, Liebe“ verknüpft. Aus der Darstellung der universellen Mutterfigur mit dem Kind unter dem schützenden Mantel konnten die Soldaten in Reubers Einheit in ihrer Lage an den Weihnachtstagen etwas Trost ziehen.[1]
„Schau in dem Kind das Erstgeborene einer neuen Menschheit an, das unter Schmerzen geboren, alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt. Es sei uns ein Sinnbild sieghaften zukunftsfrohen Lebens, das wir nach aller Todeserfahrung um so heißer und echter lieben wollen, ein Leben, das nur lebenswert ist, wenn es lichtstrahlend rein und liebeswarm ist.“
„Das Bild zieht die Menschen in seinen Bann, Christen und auch Nichtchristen. (…) Die Ruhe und Geborgenheit, die von diesem Bild ausgeht, steht in Spannung zu den verzweifelten Umständen seiner Entstehung im Kessel von Stalingrad 1942. [Kurt Reuber hat dieses Werk] seinen Leidensgenossen in einer Heiligabendandacht „vorgestellt“, als eine anschaubare Predigt des Evangeliums. Der Bericht eines Augenzeugen gibt zu verstehen, dass der enge Bunker durch dieses Bild zu einer Kapelle geworden sei.“
– Martin Kruse: Kurt Reuber - ein früh Vollendeter, Evangelische Zeitung vom 23. Dezember 2012
Zusammen mit Reubers Selbstbildnis und etwa 150 weiteren Porträts nahm ein schwer verwundeter Offizier das Bild mit in eine der letzten Ju 52-Transportmaschinen, die noch aus dem Kessel herausflogen. Diese gelangten dann zu Reubers Familie, die es im Pfarrhaus Wichmannshausen (heute Sontra, Nordhessen) aufbewahrte.[3] 1946 veröffentlichte Reubers Freund Arno Pötzsch seinen apologetischen Gedichtband Die Madonna von Stalingrad mit Zeichnungen Reubers. Das führte dazu, dass Reuber zu einem Märtyrer des Protestantismus verklärt wurde. Pötzsch verwebte in den während des Krieges entstandenen Gedichten christliche Themen mit der Verteidigung des Dritten Reiches, während er den Grund für den Überfall auf die Sowjetunion und den Nationalsozialismus nicht hinterfragte, stilisierte er die deutschen Soldaten zu Opfern (Opfermythos), die Trost im Glauben an Gott suchten. Novellen und Kriegsmemoiren verklärten in den Nachkriegsjahren die Kriegsweihnachten im Stalingrader Kessel weiter und bereiteten den Boden für den Märtyrermythos, den die Madonna repräsentiert.[4]
Auf Anregung von Bundespräsident Karl Carstens, eines ehemaligen SA-Mitglieds und Wehrmachtsleutnants,[5] übergab die Familie die Zeichnung der Stalingradmadonna am 26. August 1983 der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
„Ein Jahr später, Weihnachten 1943, malte er im Kriegsgefangenenlager Jelabuga eine zweite Madonna, die in der Lagerzeitung erschien. Später bekam das Bild den Namen »Gefangenen-Madonna«, der Bruch ist deutlich: Maria wirkt deutlich trostloser und zeigt die Verzweiflung Reubers.“
Auch diesmal gelang es, Reubers Frau Wochen später das Bild zu übergeben.[6][7]
„So ganz am Ende, vor dem Nichts, im Bann des Todes - welch eine Umwertung der Werte hat sich in uns vollzogen! So wollen wir diese Wartezeit nützen als Familie, im Beruf, im Volk. Mitten auf unserem adventlichen Todesweg leuchtet schon das Freudenlicht der Weihnacht als Geburtsfest einer neuen Zeit, in der - wie hart es auch sein möge - wir uns des neugeschenkten Lebens würdig erweisen wollen.“
In zahlreichen Kirchen in Deutschland, Österreich, England, Russland sind Reproduktionen dieses Bildes in den verschiedensten künstlerischen Techniken als Mahnung gegen den Krieg ausgestellt.
Meersburg, kleine vergitterte Kapelle „Zum Frieden“ am Wegesrand des Spazierweges „Am Rosenhag“ vor der Einmündung in die Töbelestraße: Kopie in Form eines Gobelins durch die russische Künstlerin Elena Kikopule[11]
Das Bild wird zudem im Wappen des Sanitätsregiments 2 der Bundeswehr in Rennerod/Koblenz verwendet. Die Bundeswehr vertreibt ferner eine Druckversion mit den senkrechten Textzeilen (links) „Weihnachten im Kessel“; (rechts) „Licht Leben Liebe“ und der oben angeordneten Jahreszahl 1942.
Eine Kopie wurde im November 2014 im Aeronauticum in Nordholz im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für Kriegsopfer aufgestellt.
Eine Kupfertreibarbeit der Stalingrad Madonna befindet sich am Grabstein von OSR Johannes Willnauer (1920–1985) am Friedhof in Steyr, Oberösterreich. Er war in Stalingrad Sanitäter bei der Einheit, der auch Kurt Reuber angehörte. Nach dem Krieg wurde er Priester, Religionslehrer an der HTL in Steyr und Präses der Kolpingsfamilie Steyr. Die Arbeit wurde von der Steyrer Goldschmiedemeisterin Barbara Postlbauer-Rus gefertigt.
Martin Kruse (Hrsg.): Die Stalingrad-Madonna. Das Werk Kurt Reubers als Dokument der Versöhnung. 1. vollständig überarbeitet Auflage. Lutherisches Verlagshaus, Hannover 2012. ISBN 978-3-7859-1076-4.
Ein letztes „O du fröhliche …“, Kurt Reubers „Stalingrad-Madonna“ wurde zu einem Symbol der Versöhnung: 1942 tröstete sie die Soldaten, Evangelische Zeitung, 23. Dezember 2012, S. 6.
Joseph B. Perry: The Madonna of Stalingrad: Mastering the (Christmas) Past and West German National Identity after World War II. Radical History Review, Heft 83, 1. März 2002, DOI:10.1215/01636545-2002-83-6.
↑Joseph B. Perry: The Madonna of Stalingrad: Mastering the (Christmas) Past and West German National Identity after World War II. Radical History Review, Heft 83, 1. März 2002, DOI:10.1215/01636545-2002-83-6, S. 10.