Das Vishnu Sahasranama, in Sanskrit विष्णुसहस्रनाम, transliteriert viṣṇusahasranāma, ist eine Hymne in Sanskrit, in der die tausend Namen Vishnus – eine der Hauptgottheiten im Hinduismus und der Höchste Gott im Vishnuismus – rezitiert oder gechantet werden. Sein Verfasser war Vedavyāsa, der Autor der Puranas.
Vishnu bzw. Viṣṇu (विष्णु) ist die erhaltende Hauptgottheit im Hinduismus. Sahasra (सहस्र) bedeutet „tausend“, kann aber je nach Zusammenhang auch „Myriade“, jede „große Zahl“ oder gar „Unendlichkeit“ suggerieren. Der Nominativ nama bzw. nāma (नाम), abgeleitet vom Wortstamm nāman, ist der „Name“, kann aber auch „Benennung, Nominativ oder Erscheinungsform“ bedeuten. Sahasranama ist ein exozentrisches Kompositum des Bahuvrihi-Typs. Das Vishnu Sahasranama ist somit als „Vishnus tausend Namen“ wiederzugeben.
Das Vishnu Sahasranama, auch Śrī Viṣṇu Sahasranāma Stotram, ist eines der heiligsten und populärsten Stotras des Hinduismus. Seine Hauptquelle ist das Anushasana Parva des Mahabharatas. Andere Versionen finden sich im Padma Purana, im Skanda Purana und im Garuda Purana. Das Vishnu Sahasranama erscheint sogar bei den Sikhs in der Abhandlung Sundar Gutka.
Über das Vishnu Sahasranama wurden zahlreiche Kommentare abgefasst. Wahrscheinlich am bedeutendsten dürfte der Kommentar (bhāṣya) von Shankara aus dem 8. Jahrhundert sein. Auch Parasara Bhattar – ein Schüler von Ramanuja im 12. Jahrhundert – schrieb einen Kommentar, in dem er die Namen Vishnus aus einer Vishishtadvaita-Perspektive heraus erläuterte.[1] Dieser Kommentar findet sich in seinem Buch Bhagavath Guna Dharpanam (oder auch Bhagavad Guna Dharpana – was als „Reflektionen über die Eigenschaften Gottes“ traduiert werden kann). Vidyadhiraja Tirtha (verstorben im Jahr 1392, ein Schüler von Jayatirtha) beschrieb ebenfalls das Vishnu Sahasranama (von ihm bezeichnet als Viṣṇusahasranāmavivṛti) aus der Sicht des Dvaita Vedantas.[2] Der Kommentar Vishnu Sahasranama Vyakhyana geht auf Satyanidhi Tirtha (gestorben 1660) zurück – gleichfalls ein Anhänger des Dvaita Vedantas. Ein weiterer Dvaita Vedanta-Anhänger mit Namen Satyasandha Tirtha (gestorben 1794) verfasste sodann den Kommentar Viṣṇusahasranāmabhāṣya. Der im 18. Jahrhundert lebende Baladeva Vidyabhushana gehörte zur Vedantaschule des Acintya-bhedābheda. Sein Kommentar zum Viṣṇu-sahasra-nāma lautete Nāmārtha-sudhā.[3]
Das Vishnu Sahasranama erfreut sich unter Hindus großer Popularität und wird oft rezitiert. Insbesondere bei frommen Anhängern Vishnus (Vaishnavas) stellt es eines ihrer Hauptgebete dar. Auch wenn Vaishnavas andere Gottheiten, wie z. B. Shiva oder Devi, verehren, so glauben sie, dass das Universum letztlich eine Manifestation des Höchsten Vishnus (Mahavishnu) ist. Bei anderen Gottheiten existieren ebenfalls Sahasranamas (wie beispielsweise für Lalita oder für Shiva), dennoch wird mit dem Begriff „Sahasranama“ gewöhnlich nur Vishnu in Verbindung gebracht.
Eine gewisse Beunruhigung hat das Erscheinen der Namen Śivaḥ (शिव – an 27. und 600. Stelle), Śaṃbhu (शंभु – an 38. Stelle), Īśānaḥ (ईशानः – an 64. Stelle) und Rudraḥ (रुद्र – an 114. Stelle) bewirkt – normalerweise alles Attribute Shivas. Das Wort Śivaḥ bedeutet ganz allgemein „glückverheißend, verheißungsvoll, günstig“ und ist somit sehr wohl auch eine Eigenschaft Vishnus. Der Advaita überbrückt den scheinbaren Konflikt dadurch, dass Shiva den zerstörerischen Aspekt des erhaltenden Vishnus darstellt, zwischen beiden Gottheiten aber sonst kein qualitativer Unterschied besteht.
Gegen Ende des Krieges von Kurukshetra suchte Yudhiṣṭhira Śrī Bhīṣma auf. Dieser hatte auf Seiten der Kauravas gekämpft und lag jetzt unbesiegt, jedoch schwer verwundet, auf einem Bett aus Pfeilen und erwartete sein Ableben. Yudhiṣṭhira stellte ihm sechs Fragen, die Śrī Bhīṣma – ein stetiger Verehrer Krishnas – alle ruhig beantwortete und zum Schluss zum Śrī Viṣṇu Sahasranāma Stotram überleitete.
Das Śrī Viṣṇu Sahasranāma Stotram beginnt im Mūlapaṭha (मूलपाठ – „Wurzelrezitation“) mit einer grundlegenden Meditation (dhyāna) über Vishnu in 22 Versen. Hierauf folgt in 7 Versen eine weitere Meditation von Vedavyāsa. Sodann setzt das eigentliche Stotra der tausend Namen in 107 Versen ein, welches im 108. Vers mit einer Schutzbitte an Nārāyaṇa endet. Zum Schluss folgt noch eine Phalashruti – phalaśruti (फलश्रुति – „Ergebnis des Gehörten“, Schlussbetrachtung oder Nachwort) in 33 Versen.
Das Śrī Viṣṇu Sahasranāma Stotram setzt sich somit aus insgesamt 170 Versen zusammen. Ihr Versmaß ist Anuṣṭubh (अनुष्टुभ्).
In der anfänglichen Meditation wird Vyasa, der Verfasser des Mahabharatas und somit auch des Vishnu Sahasranamas mit Vishnu gleichgesetzt. Im 5. und 6. Vers folgt eine Verehrung Vishnus. Im 7. Vers übernimmt Śrī Vaiśaṁpāyana und beschreibt wie Yudhiṣṭhira Fragen an Śrī Bhīṣma, Shantanus Sohn, stellt. Hierauf antwortet Śrī Bhīṣma dann im 10. Vers, wobei er bis einschließlich Vers 22 Vishnu lobpreist und vorschlägt, seine tausend Namen zu rezitieren.
अविकाराय शुद्धाय नित्याय परमात्मने
सदैकरूपरूपाय विष्णवे सर्वजिष्णवे
„avikārāya śuddhāya nityāya paramātmane
sadaikarūparūpāya viṣṇave sarvajiṣṇave“
„Lass mich vor Vishnu verneigen, der rein, unberührt und immerwährend ist, der die letzte Wahrheit darstellt
und der alle Sterblichen dieser Welt für sich einnimmt“
Der von Vedavyasa gesprochene Vorspann umfasst vier Teile (nyāsaḥ): Pūrvanyāsaḥ (पूर्वन्यासः – Erstschrift), atha nyāsaḥ (अथ न्यासः – Folgeschrift), atha karanyāsaḥ (अथ करन्यासः – weitere Handschrift) und atha ṣaḍaṅganyāsaḥ (अथ षडङ्गन्यासः – weitere sechsgliedrige Schrift).
In der darauffolgenden Meditation (अथ ध्यानम् – atha dhyānam) wird erneut in 7 weiteren Versen die Herrlichkeit Vishnus beschrieben und Vishnu ausdrücklich verehrt.
ॐ शान्ताकारं भुजगशयनं पद्मनाभं सुरेशं विश्वाधारं गगनसदृशं मेघवर्णं शुभाङ्गम्
लक्ष्मीकान्तं कमलनयनं योगिभिर्ध्यानगम्यं वन्दे विष्णुं भवभयहरं सर्वलोकैकनाथम्
„oṁ śāntākāraṁ bhujagaśayanaṁ padmanābhaṁ surēśaṁ viśvādhāraṁ gaganasadr̥śaṁ mēghavarṇaṁ śubhāṅgam
lakṣmīkāntaṁ kamalanayanaṁ yogibhirdhyānagamyaṁ vande viṣṇuṁ bhavabhayaharaṁ sarvalokaikanātham.“
„Ich verbeuge mich vor Vishnu, dem Frieden in Person. Er schläft auf seinen gekreuzten Armen, sein Nabel birgt einen Lotos und er ist der Gott aller Götter. Auf ihm, der dem Himmel gleicht, mit herrlichen Gliedmaßen und der Hautfarbe einer Regenwolke, ruht die Erde.
Er ist der Gemahl Lakshmis, seine Augen gleichen Lotosblüten und Heilige erkennen ihn in ihren Gedanken. Er, aller Welten Herr, behebt jeden Verdruss und entfernt sämtliche Ängste.“
Im Stotra erscheinen sodann die für die Unendlichkeit stehenden tausend Namen Vishnus. Jeweils sieben bis elf Namen sind in einem Vers vereint. Eine Logik in der Anordnung der einzelnen Namen lässt sich nicht direkt erkennen, obwohl manchmal angenommen wird, dass die ersten 24 Namen mit der Bedeutung der Silben im Gayatri-Mantra konform sein sollen.
Unter den tausend Namen finden sich auch einige, wenn auch relativ seltene Wiederholungen. Insgesamt enthält die Hymne 90 Namenswiederholungen, entsprechend 9 %. Hierunter finden sich 74 einfache Wiederholungen, 14 wurden zweimal wiederholt und 2 sogar dreimal. Manchmal handelt es sich um direkte Wiederholungen (wie beispielsweise viṣṇu wiederholt mit viṣṇu oder śiva mit śiva). Manchmal werden auch äquivalente Wiederholungen verwendet – beispielsweise wird Śrīpati (श्रीपति) durch Mādhava (माधव) wiederholt, oder Puṣkarākṣa (पुष्कराक्ष) durch Kamalākṣa (कमलाक्ष). Diese Wiederholungen stellen kein Makel dar. Vielmehr sind in einer hingebungsvollen Stuti Wiederholungen durchaus vertretbar, wie dies auch bei rein emotionalen Liebeserklärungen meist der Fall ist.
In Wirklichkeit sind im Sahasranama 1031 Namen Vishnus angeführt. Die zusätzlichen 31 Namen sind adjektivischer Natur und qualifizieren (विशेषण – viśeṣaṇa) das jeweils unmittelbar folgende Substantiv. Unter den ersten 500 Namen befinden sich 20 Doppelnamen, in der zweiten Hälfte des Stotras nur noch 11 Doppelnamen. Die Namen sollten bei einer Arcana (अर्चन – „Lobpreisung“) Vishnus immer im korrekten Dativ erscheinen. Der 896. Name bezeichnet „ewige Zeit, von je her, immer“ und ist undeklinierbar (अव्यय – avyaya) und sollte daher Sanāt (सनात्) lauten. Der 929. Name Santaḥ („Heilige, Edle, Aufrechte“) steht im Plural und will zum Ausdruck bringen, dass Gott von guten Menschen verehrt wird.
Als Beispiele seien nun die ersten neun Namen herausgegriffen, welche im ersten Vers des Stotras vereint aufgeführt sind:
विश्वं विष्णुर्वषट्कारो भूतभव्यभवत्प्रभुः
भूतकृद्भूतभृद्भावो भूतात्मा भूतभावनः
„viśvaṁ viṣṇurvaṣaṭkāro bhūtabhavyabhavatprabhuḥ
bhūtakṛdbhūtabhṛdbhāvo bhūtātmā bhūtabhāvanaḥ“
„Universeller–Alldurchdringender–Opferverse Empfangender–Herr jenseits von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Erschaffer und Vernichter aller Lebensformen–Träger, Erhalter und Beherrscher des Universums–Reines Dasein–Essenz aller Lebewesen–Ursprung und Entfalter aller Elemente“
Interpretation:
Viele der Namen Vishnus kreisen um seine Macht und seine Kontrollgewalt über Karma. Als Beispiele hierzu seien herausgegriffen: der 135. Name Dharmādhyakṣaḥ (धर्माध्यक्ष) – übersetzt als „jemand, der die verdienstvolle Natur Dharma (und auch weniger lobenswertes Adharma) aller Lebewesen erkennt“ – und sie dementsprechend entlohnt. Oder der 32. Name Bhāvanaḥ (भावन – „schöpferische und wirkungsvolle Ursache“), der in eine ähnliche Richtung geht. In diesem Fall ermöglicht es Gott den Lebewesen, die Früchte ihres Tuns zu genießen (Interpretation von Shankara). Ähnlich auch der 44. Name Vidhātā (विधाता), der sich auf die „Erzeugung von Karma und dessen Auswirkungen“ bezieht. Oder der 325. Name Apramattaḥ (अप्रमत्त), mit dem Vishnu als jemand dargestellt wird, der immer darauf bedacht ist, „Verdienstvollen die Ergebnisse ihrer Arbeit zukommen zu lassen“. Der 387. Name Sthānadaḥ (स्थानदः) bedeutet „Statusverleiher“, d. h. der Stand, den Gott einer Person (wie beispielsweise Dhruva) aufgrund ihres Karmas zuweist. Schließlich der 609. Name Gottes Śrīvibhāvanaḥ (श्रीविभावनः), der jederlei Wohlstand und Tugendhaftigkeit aufgrund guten Karmas verleiht.
Die ersten 22 Verse des Phalashrutis werden erneut von Śrī Bhīṣma gesprochen. Hierin streicht Śrī Bhīṣma die Vorzüge des täglichen Rezitierens der tausend Namen Vishnus heraus: wer den Text jeden Tag in voller Hingabe liest, wird in seinem Leben Bekanntheit, Ruhm, Reichtum und Wissen erlangen. In Vers 23 folgt eine Bitte Arjunas an Gott, der darauf in Vers 24 antwortet. Vers 25 enthält eine Grußformel Vyasas an Vasudeva. In Vers 26 stellt Parvati eine Frage, die in Vers 27 von Shiva beantwortet wird, indem er das Chanten des Namen Ramas den tausend Namen Vishnus gleichstellt. In Vers 28 erscheint eine Grußformel Brahmas. In Vers 29 preist Sanjaya Krishna und Arjuna. Die letzten vier Verse schließlich werden von Bhagavan selbst gesprochen und er empfiehlt, den Naman Narayanas zu singen und ihm letztlich alles zu opfern.
(basierend auf dem Kommentar Shankaras)
Der Allmächtige und Alldurchdringende kann logisch nicht definiert werden. Und da er das Substratum sämtlicher Dualitäten darstellt, kann er auch in keiner einzigen Sprache weder mit irgendeinem Namen oder sonstigem Begriff belegt werden. Selbst in literarischer Form ist es unmöglich, sich ihm auch nur vage zu nähern. Gott befindet sich jenseits des Bekannten und auch des Unbekannten. Im Endeffekt ist er reines, erhellendes Bewusstsein, das sämtliche Erlebnisse durchwebt.
Und dennoch ist er überall manifest und kann daher für all seine Offenbarungen auch unzählige Namen annehmen. Definitionen sollten das Definierte immer direkt beschreiben. Die tausend Namen Vishnus geben uns aber tausend indirekte Definitionen an die Hand, mit denen der letztendlichen Realität und dem Unbegrenzten mittels Unwirklichem und Begrenztem nähergerückt werden soll. Die tausend Namen des Herrn wurden einst von Rishis geprägt und in Umlauf gebracht. Es war der Poet und Seher Vyasa, der sie dann sammelte und sie in einer freudigen Hymne an Vishnu zu einer Girlande der Hingabe und der Ehrerbietung verwob.
Da jeder einzelne Name somit nur eine Umschreibung des Unbekannten mit bekannten Begriffen ist, kann er uns nur dann in das Reich göttlicher Erfahrungen befördern, wenn wir durch Kontemplation unseren Geist auf eine höhere Stufe versetzen. Die tausend Namen im Vishnu Sahasranama sind somit nicht nur für Verehrer Vishnus Ansporn und von Nutzen, sondern durchaus auch für philosophisch Interessierte ein „Flugdrachen“ in die Gefilde höheren Bewusstseins.