Wolfgang Michael Rihm (* 13. März 1952 in Karlsruhe; † 27. Juli 2024 in Ettlingen[1]) war ein deutscher Komponist, Musikwissenschaftler und Essayist.
Rihm wuchs in Karlsruhe auf. Sein Vater war Buchhalter, seine Mutter Hausfrau. Angeregt durch frühe Begegnungen mit Malerei, Literatur und Musik begann er 1963 zu komponieren. Bereits während seiner Schulzeit am humanistischen Bismarck-Gymnasium studierte er von 1968 bis 1972 Komposition bei Eugen Werner Velte an der Hochschule für Musik Karlsruhe. Er beschäftigte sich mit der Musik der Zweiten Wiener Schule, instrumentierte Arnold Schönbergs Klavierstücke op. 19 und orientierte sich vorübergehend am aphoristisch-knappen Stil Anton Weberns. Weitere Kompositionslehrer von Wolfgang Rihm waren Wolfgang Fortner und Humphrey Searle. Parallel zum Abitur legte er 1972 das Staatsexamen in Komposition und Musiktheorie an der Musikhochschule ab. Es folgten Studien bei Karlheinz Stockhausen 1972/73 in Köln sowie von 1973 bis 1976 an der Hochschule für Musik Freiburg bei Klaus Huber (Komposition) und Hans Heinrich Eggebrecht (Musikwissenschaft). Erste eigene Erfahrung als Dozent sammelte Rihm 1973 bis 1978 in Karlsruhe, ab 1978 bei den Darmstädter Ferienkursen (die er seit 1970 besucht hatte) und 1981 an der Musikhochschule München. 1985 übernahm er als Nachfolger seines Lehrers Eugen Werner Velte den Lehrstuhl für Komposition an der Musikhochschule Karlsruhe.[2]
Nach der Aufführung seines Orchesterstücks Morphonie – Sektor IV bei den Donaueschinger Musiktagen 1974 fand Rihm in den Folgejahren breite Anerkennung innerhalb des Musikbetriebs.[2] Ab 1982 war er Präsidiumsmitglied des Deutschen Komponistenverbands, ab 1984 Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrats, ab 1985 Kuratoriumsmitglied der Heinrich-Strobel-Stiftung, ab 1989 gehörte er dem Aufsichtsrat der GEMA an. 1984/85 und 1997 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und Präsidiumsmitglied des Deutschen Musikrats, 1984 bis 1989 Mitherausgeber der Musikzeitschrift Melos, 1984 bis 1990 musikalischer Berater der Deutschen Oper Berlin, 1990 bis 1993 musikalischer Berater des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe. Auf Einladung von Walter Fink war er 1995 der fünfte Komponist im jährlichen Komponistenporträt des Rheingau Musik Festival.
Die Freie Universität Berlin würdigte ihn 1998 mit einer Ehrendoktorwürde als Künstler, der „in seinem überaus umfangreichen kompositorischen Werk die Freiheit des Kreativen verkörpert und für eine Ästhetik der Freiheit der Kunst eintritt, der zahlreiche, theoretisch fundierte Schriften verfasst hat, die außerordentliche musikwissenschaftliche Bedeutung besitzen.“[3] 2013/2014 war er Capell-Compositeur der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Im Sommer 2016 übernahm Rihm die künstlerische Gesamtleitung der von Pierre Boulez gegründeten Lucerne Festival Academy.[4] In der Spielzeit 2024/25 war Rihm als Composer in Residence der Berliner Philharmoniker vorgesehen.[5]
Um 2020 erkrankte er an Krebs, am 27. Juli 2024 erlag er seinem Leiden im Alter von 72 Jahren.[6] Wolfgang Rihm lebte in Karlsruhe und Berlin. Er hatte einen Sohn und eine Tochter.[7]
Als Komponist und Musikschriftsteller vertrat Rihm eine Ästhetik, die das subjektive Ausdrucksbedürfnis in den Mittelpunkt stellt. Vorbilder in diesem Sinn waren für ihn Hans Werner Henze,[8] später Karlheinz Stockhausen und noch später Luigi Nono. Darüber hinaus vermittelten ihm literarische Texte wichtige Impulse: die Lyrik Paul Celans, die Philosophie Friedrich Nietzsches, die Theater-Schriften von Antonin Artaud und Heiner Müller. Die von James Joyce formulierte Idee eines „work in progress“ hat ihn insofern beeinflusst, als er seine Stücke gern als Provisorien („Versuche“) betrachtete, die – durch Erweiterung, Ergänzung, Tropierung, Vernetzung und Verflechtung des einmal entwickelten Materials – einander fortlaufend korrigieren oder ergänzen können. Rihm benutzte hierfür gern Metaphern aus der bildenden Kunst und sprach von „Übermalungen“ oder von Bildhauerei: „Ich habe die Vorstellung eines großen Musikblocks, der in mir ist. Jede Komposition ist zugleich ein Teil von ihm, als auch eine in ihn gemeißelte Physiognomie.“[9]
Vergleichbare Verfahren gibt es unter anderem im Schaffen von Pierre Boulez (dieser spricht von „Ableitungen“ und „Wucherungen“). 1973 lernte Rihm den österreichischen Maler Kurt Kocherscheidt kennen, dessen offene, radikale Art des Zeichnens ihn unmittelbar angesprochen hat. Beeinflusst haben ihn ferner junge Künstler der Kunstakademie Karlsruhe, die ab den 1970er Jahren dort lehrten und später zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Malerei der 1980er Jahre wurden, darunter Markus Lüpertz, Georg Baselitz oder Per Kirkeby.
Stilistisch lassen sich grob drei Perioden im Schaffen von Rihm unterscheiden: Seine frühen Stücke knüpfen an eine Tradition an, die sich von den späten Instrumentalwerken Beethovens hin zu Schönberg, Berg und Webern spannt. Wegen ihrer dezidierten Subjektivität wurde Rihms Musik damals gelegentlich der sogenannten Neuen Einfachheit zugerechnet. Ab den 1980er Jahren entwickelt sich ein lakonisch-ausdrucksknapper Stil; Klänge werden als Zeichen („Chiffren“) gedeutet, im Sinne einer neuen Erforschung musikalischer Semantik. Ab den 1990er Jahren erscheinen schließlich diese beiden Positionen als These und Antithese zugespitzt; zugleich sucht Rihm immer wieder Möglichkeiten einer Synthese. Zunehmende Prägnanz der musikalischen Formulierung lässt Gebilde von hoher Virtuosität entstehen. Zu Beginn der 1990er Jahre entwickelte sich Rihms Komponieren „weg von der Emphase des Einzelereignisses hin zu einem Konzept des Fließens, der Gestaltung größerer Zusammenhänge“ (Max Nyffeler[10]). Paradigmatisch dafür ist das kantable Violinkonzert Gesungene Zeit, das 1992 von Anne-Sophie Mutter in Zürich uraufgeführt wurde.
Neben zahlreichen Kompositionen für kleinere Besetzungen und drei Symphonien schrieb er auch Bühnenwerke. Von ihm wurde zunächst die Kammeroper Faust und Yorick (1976; mit einem Libretto von Frithjof Haas nach dem gleichnamigen Stück von Jean Tardieu) bekannt. Ein großer Erfolg wurde die 1979 von der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführte Kammeroper Jakob Lenz. Zwischen 1983 und 1986 folgte Die Hamletmaschine, ein Musiktheaterstück in fünf Teilen mit einem Libretto nach dem gleichnamigen Theaterstück von Heiner Müller, und 1987 Oedipus nach bzw. mit Texten von Sophokles. 1992 brachte die Hamburger Staatsoper Die Eroberung von Mexico von ihm auf die Bühne. Proserpina (2009), nach dem gleichnamigen Stück von Johann Wolfgang von Goethe im Schwetzinger Schlosstheater, die über Nietzsche phantasierende Oper Dionysos (2010; Salzburg, Berlin, Amsterdam) und ein Hornkonzert (2013–2014) sind seine späteren großen Arbeiten. Rihm wurde mit einer Komposition für die Auftaktveranstaltung in der Hamburger Elbphilharmonie im Großen Saal am 11. Januar 2017 beauftragt.[2] Das NDR Elbphilharmonie Orchester mit Thomas Hengelbrock als Dirigent brachte sein Triptychon und Spruch in memoriam Hans Henny Jahnn dank Radio-, Fernseh- und Online-Übertragungen vor einem europaweiten Millionenpublikum zur Uraufführung.[11]
„Kunst machen heißt immer, sich angreifbar zu machen. Das muss man aushalten, dem muss man sich überlassen. Um unangreifbar zu sein, muss man entweder Kritiker werden oder Bankdirektor. Aber man darf nicht Künstler werden.“
Bücher
Einzeltexte (Auswahl)
Personendaten | |
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NAME | Rihm, Wolfgang |
ALTERNATIVNAMEN | Rihm, Wolfgang Michael (vollständiger Name) |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Komponist, Musikwissenschaftler und Essayist |
GEBURTSDATUM | 13. März 1952 |
GEBURTSORT | Karlsruhe |
STERBEDATUM | 27. Juli 2024 |
STERBEORT | Ettlingen |