Die ukrainischen Künstler leisteten einen wichtigen Beitrag für die internationale Avantgarde, wobei nicht von einer spezifisch ukrainischen Avantgarde, sondern vielmehr von einer Avantgarde in der Ukraine die Rede sein muss. Das liegt daran, dass viele Künstler nicht ethnisch mit der Ukraine verbunden waren, sondern in dem Land zeitweise ihrer künstlerischen Karriere nachgingen. Die avantgardistischen Künstler sind daher als Teil einer europäischen Avantgarde zu verstehen, was auch ihre Netzwerke und institutionellen Verbindungen bekräftigen.[1] Wichtige Werke schufen sie im Ausland. So ist in der Avantgarde in der Ukraine eine deutliche Tendenz zur Internationalisierung der Kunst zu spüren, die sich stärker äußert als etwa in der deutschen oder russischen Avantgarde.[2]
Ein aktives Zentrum der ukrainischen Avantgarde in den 1920er Jahren war die damalige Hauptstadt Charkiw, die international allerdings wenig Beachtung fand.[2] Dort entwickelten sich vor allem die Konzepte des Bauhauses zu einem Höhepunkt, während sie in Deutschland durch die Politik immer mehr Restriktionen unterlagen.
Die ukrainische Literatur der Avantgarde zeichnet sich durch die Verwendung der eigenen Sprache, den Rückgriff auf ukrainische Traditionen und den Einbezug einer nationalen Komponente aus. Diese Merkmale demonstrierten eine Zugehörigkeit zu einem kulturell europäischen Kontinuum, wobei sich auch ein ambivalenter Umgang mit dem Zeitgeist des Westens wiederfindet, welcher oftmals in polemischen Diskursen geführt wurde.[2] Wichtiger literarische Vertreter sind Mychaj Semenko, Geo Schkurupij, Walerjan Polischtschuk und Majk Johansen. Alexei Jelissejewitsch Krutschonych verfasste das Libretto für die futuristische Oper Sieg über die Sonne (1913).
In der ukrainischen Avantgarde stieß die künstlerische Moderne aus Deutschland auf starke Resonanz. In der Fotografie wurden vor allem Lázló Moholy-Nagy und Walter Peterhans rezipiert, welche beide in der Fotografie-Abteilung des Bauhauses tätig waren. Die ukrainischen Künstler interessierten sich für das Konzept des Neuen Sehens, für experimentelle und neue Blickwinkel und Perspektiven. Wichtige Vertreter sind unter anderem der Fotograf Dan Sotnyk (Lebensdaten unbekannt) und der futuristische Film- und Kulturtheoretiker Leonid Skrypnyk (1893–1929).[8] Sein Hauptwerk The Intellectual war ein entlarvendes Hybridprodukt aus Drehbuch und Roman über die Wiederkehr der bürgerlichen Moral nach der Revolution, dessen Aufbau sich an Fjodor Dostojewskis Roman Schuld und Sühne anlehnte.[9]
Günter Berghaus (Hrsg.): Handbook of international Futurism. de Gruyter, Berlin / New York 2018, S. 853 ff.
Jo-Anne Birnie Danzker, Igor Jassenjawsky, Joseph Kiblitsky (Hrsg.): Avantgarde & Ukraine. Katalog zur Ausstellung „Die Avantgarde und die Ukraine, 1910–1936“ (6. Mai bis 11. Juli 1993) in der Villa Stuck München. Villa Stuck / Klinkhardt & Biermann, München 1993, ISBN 3-7814-0346-7.
Myroslava M. Mudrak: The New Generation and Artistic Modernism in the Ukraine (STUDIES IN THE FINE ARTS AVANT-GARDE). Umi Research Press, Ann Arbor 1986, ISBN 978-0-8357-1687-1 (englisch)
Valentin Belentschikow: Zu einigen Besonderheiten der ukrainischen literarischen Avantgarde, in: Zeitschrift für Slawistik, Bd. 44, Nr. 2, 1999, S. 181–197.
Marina Dmitrieva: Ukrainische Avantgarde-Zeitschriften im internationalen Kontext. In: Pál Dréky, Zoltán Kékesi, Pál Kelemen (Hrsg.): Mitteleuropäische Avantgarden. Intermedialität und Interregionalität im 20. Jahrhundert. Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 67–86, ISBN 978-3-631-55138-7 (Digitalisat auf Academia.edu).
Marina Dmitrieva: Zwischen Stadt und Steppe. Künstlerische Texte der ukrainischen Moderne aus den 1910er bis 1930er Jahren. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe. Lukas-Verlag, Berlin, 2012, ISBN 978-3-86732-119-8
Die lebende Leiche Kunst. Futurismus in der Ukraine. Zusammengestellt und aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe, in: Schreibheft Nummer 86 (2016), S. 79–135.
Vera Faber: Die Ukrainische Avantgarde zwischen Ost und West. Intertextualität, Intermedialität und Polemik im ukrainischen Futurismus und Konstruktivismus der späten 1920er-Jahre. transcript, Bielefeld 2019, ISBN 978-3-8376-4606-1.
Myroslav Shkandrij: Avant-Garde Art in Ukraine, 1910–1930. Contested Memory. Academic Studies Press, Boston 2019, ISBN 978-1-61811-975-9 (englisch).
Konstantin Akinsha, Katia Denysova, Olena Kashuba-Volvach: In the Eye of the Storm: Modernism in Ukraine, 1900–1930s, Thames & Hudson, London 2023, ISBN 978-0-500-29715-5
Stella Rollig, Konstantin Akinsha, Katia Denysova (Hrsg.): The Eye of the Storm. Modernismen in der Ukraine. König, Walther, Wien 2024, ISBN 978-3753306162
↑Myroslav Shkandrij: Avant-garde art in Ukraine, 1910–1930: contested memory. Boston 2019, ISBN 978-1-61811-976-6, S.xi.
↑ abcdVera Faber: Die Rezeption der deutschen Moderne in der ukrainischen Avantgarde. In: Zeitschrift für Slawistik. Band60, Nr.2, 1. Juli 2015, ISSN2196-7016, S.228–241, doi:10.1515/slaw-2015-0017.
↑Konstantin Akinsha: Meine Versuche, ukrainische Kunst in Europa zu zeigen, sind gescheitert. Bis der Krieg kam. In: Neue Zürcher Zeitung. 27. Februar 2023, ISSN0376-6829 (nzz.ch [abgerufen am 7. September 2023]).
↑Bohdan Y. Nebesio: The Theoretical Past of Cinema: Introducing Ukrainian Film Theory of the 1920s. In: Film Criticism, Vol. 20, No. 1/2, Herbst/Winter 1995-96, S. 67–77.
↑L. Skrypnyk: The Intellectual: A Screened Novel in Six parts with a Prologue and Epilogue. Siehe Kurzbiographie auf routledge.com.
↑Jo A Birnie Danzker: Avantgarde & Ukraine Taschenbuch. Klinkhardt & Biermann, München 1993, ISBN 3-7814-0345-9.
↑Myroslav Shkandrij: The Phenomenon of the Ukrainian Avant-Garde 1910–1935. Winnipeg Art Gallery, Winnipeg 2002, ISBN 0-88915-208-X.
↑Yuliia Berdiiarova, Rita Kersting, Konstantin Akinsha: HIER UND JETZT im Museum Ludwig: Ukrainische Moderne. 1900–1930 & Daria Koltsova. Bd. 9: Museum Ludwig, Köln (HIER UND JETZT im Museum Ludwig / HERE AND NOW at Museum Ludwig). Hrsg.: König, Walther. Köln 2023, ISBN 978-3-7533-0492-2.